
(überarbeitet 14.10.2025)
Der Beitrag ist eine Reaktion auf den SPIEGEL-Artikel zur Diskussion um die Teilnahme der Grünen an der Berliner Pro-Palästina-Demo am 27.09.2025. Die weitgehende Sprach- und Orientierungslosigkeit der Partei bei diesem Konflikt ist eine Frage, die nicht nur die Grünen betrifft. Auch andere Organisationen, Gewerkschaften und Kirchen stecken bei diesem Thema in einem Dilemma. Ich halte die damit zusammenhängenden Fragen allerdings für essentiell.
Die Haltung der Grünen widerspiegelt ein weit verbreitetes Dilemma der deutschen Öffentlichkeit. Auf der einen Seite die Ablehnung der immer massiveren Kriegsführung durch die israelische Armee, auf der anderen Seite die notwendige Abgrenzung gegenüber der Hamas und die Sorge um Leben und Gesundheit jüdischer Mitbürger:innen. Aus Angst, die eigene Meinung könnte als antisemitisch eingestuft werden, haben nicht nur Politiker, sondern auch viele Intellektuelle, Medien und Institutionen viel zu lange in Ratlosigkeit geschwiegen.
Die Grünen stecken auch politisch in einem Dilemma: auf der einen Seite die weitaus deutlichere Position der Linken (die seit der Demo am WE sogar das Wort Genozid benutzen), auf der anderen Seite das Festhalten an der überkommenen Definition der deutschen Staatsräson gegenüber Israel. Eine klare Position sieht anders aus. Wie finden wir einen Ausweg aus dieser Sackgasse?
Nachfolgend ein Versuch in Stichpunkten:
- Wir müssen endlich breiter über den historischen Kontext reden. Der deutsch-israelische Historiker Moshe Zuckermann sagte schon im Oktober 2023: “Wir reden im Moment über den Terror, aber nicht über den Gesamtkontext der Katastrophe. Netanjahu hat es geschafft, die Frage der Palästinenser einfach von der israelischen Tagesordnung wegzuwischen.”(WOZ 12.10.23) Damals wurde das Reden über den Kontext als „Relativierung“ strikt abgelehnt. Aber auch zwei Jahre später wird dieser Kontext kaum diskutiert.
- Wenn unter Artikeln zum Gaza-Krieg immer der 7. Oktober als Ursache des Gaza-Krieges genannt wird, müsste immer auch ein Satz zur Rolle von Netanjahu genannt werden. Netanjahu hat immer erklärt, dass er alles tun wird, um eine Zweistaatenlösung zu verhindern: durch Ausweitung der Siedlungen im Westjordanland, das Zulassen der Finanzierung der Hamas durch Katar, bei gleichzeitiger Schwächung aller reformbereiten Kräfte unter den Palästinensern. Was dazu geführt hat, dass die Autonomiebehörde in den Augen der Palästinenser massiv an Ansehen verloren hat. Netanjahu war quasi eine Art „Pate“ für die Hamas. Der Status Quo – alle paar Jahre ein paar (Hundert) Raketen von der Hamas mit anschließender massiver Bombardierung des Gaza-Streifens – war zu einem scheinbar unvermeidlichen Ritual geworden.
- Die Zustände im Westjordanland wurden als scheinbar unlösbar verdrängt. Im Internet wird ein Video mit Norbert Blüm (Hart aber Fair von 2009) geteilt, in dem nicht nur Blüm Klartext über die Besatzung in der besetzten Westbank redet. Seine Aussagen ähneln den Szenen in dem oskarprämierten Dokumentarfilm „No other land“ von 2024. Vergessen wurden die möglichen Folgen. Von Fidel Castro stammt der Slogan: Vaterland oder Tod. Es gibt wohl nichts, was ein Volk so in Hass und Trauma stürzen kann wie die Vertreibung aus dem oder die dauerhafte Fremd-Besatzung des eigenen Land(es).
- Sechs ehemalige Geheimdienstchefs hatten schon 2013 in einem Dokumentarfilm gewarnt: “Die Fortsetzung und Aufrechterhaltung der Besatzung einer zivilen Bevölkerung wird zum Ruin Israels führen und in eine Katastrophe.” Der linke israelische Schriftsteller Tomer Dotan-Dreyfus sagte nach dem Anschlag: “…eigentlich ist doch genau das passiert, von dem die israelische Linke seit Jahrzehnten sagt, dass es passieren wird…“
- Dass die israelische Regierung 2022 eine Ausweitung der Souveränität auf „Judäa und Samaria“ (gemeint ist das Westjordanland) in den Koalitionsvertrag aufgenommen hat, wurde mit weitgehendem Schweigen in Deutschland und Europa hingenommen. Der Westen hat sich damit mitschuldig gemacht. Das Morden der Hamas scheint schlimmerweise notwendig gewesen zu sein, um der Welt klarzumachen, dass das Verdrängen der palästinensischen Frage keine Option sein kann. Tatsächlich ist mit dem 7. Oktober die Zwei-Staaten-Lösung wieder mit Macht auf die Tagesordnung zurückgekommen. Dafür wurde die Hamas von den Palästinensern sogar lange Zeit mit großer Mehrheit anerkannt, trotz der massiven Antwort der israelischen Armee. Dabei lag die Zustimmung zur Hamas vor dem Anschlag selbst im Gaza-Streifen bei nur 25 Prozent.
- Es wird Zeit, dass der Begriff „Staatsräson“ neu definiert wird. Wenn diese auch in Zukunft als Richtschnur gelten soll, muss klar sein, dass diese dem Existenzrecht des israelischen Staates gilt, nicht aber der Unterstützung einer religiös-nationalistischen Politik einer beliebigen Regierung. Aus der Tatsache, dass die Gründung des Staates Israel auch eine Folge des Holocaust ist, muss die besondere Verantwortung gleichermaßen dem Existenzrecht eines palästinensischen Staates gelten.
- Tatsächlich führt die Politik Netanjahus Israel in die internationale Isolation. Die Versuche, israelkritische Stimmen im Kulturbereich als antisemitisch zu verurteilen, ist ein Irrweg. Künstler hatten schon immer die Aufgabe, ihre Stimme zu erheben, wenn es um massive Menschenrechtsverletzungen geht. Die Distanzierung von Claudia Roth nach der Auszeichnung von „No other land“ bei der Berlinale 2024 (ihr Beifall hätte nur dem israelischen Regisseur gegolten, nicht dem Palästinenser) war beschämend. Sie war auch eine Folge der beschriebenen Orientierungslosigkeit, eben auch bei den Grünen.
- Die Diskussion darüber, ob das Vorgehen der IDF nun Völkermord sei oder nicht, ist unnötig. Inzwischen gibt es dazu auch eine klare Stellungnahme einer Kommission des UN-Menschenrechtsrates. Die Grünen sollten nicht länger auf einen endgültigen Richterspruch warten, der erst in Jahren kommen wird. Ein weiteres Abwarten wäre bequem und haltungslos. Dafür dürften die Grünen tatsächlich abgestraft werden.
- Wer den Antisemitismus in Deutschland bekämpfen will, muss sich verabschieden von dem Gummiparagraphen „israelbezogener Antisemitismus“. Dieser dient viel zu oft dazu, Kritik an der israelischen Politik zu unterdrücken. Tatsächlich ist ausgerechnet zwischen ultrarechten Parteien in Europa (mit tendenziell antisemitischen Haltungen) und der israelischen Regierung eine besondere Nähe festzustellen. Und aktuelle Umfragen in Deutschland zeigen, dass AfD-Anhänger deutlich weniger Zustimmung zu Wirtschaftssanktionen gegenüber Israel zeigen als Anhänger anderer Parteien.
- Weitaus größeren Einfluss auf das Anwachsen des Antisemitismus dürften die Bilder der jüngeren und jüngsten Vergangenheit haben – neben den aktuellen Nachrichten aus Gaza auch das, was Norbert Blüm und die ehemaligen ShinBet-Chefs beschrieben haben. Es ist wie in der Schule, wenn ein Schüler sich komplett unsozial verhält, keine Regeln einhält, aber unter dem besonderen Schutz der Lehrer steht. Abneigung und Wut zeigen sich dann an anderer Stelle.
- Die Grünen müssen diese Diskussion führen, weil sie nicht nur das Selbstverständnis der Partei betrifft (Kassem Taher Saleh: „Wir dürfen nicht aufhören, Unrecht als Unrecht zu benennen – sonst verspielen wir Glaubwürdigkeit, die wir über Jahre nicht zurückgewinnen können.“), sondern weil das Thema schon jetzt die Gesellschaft spaltet. Das betrifft vor allem Städte, Stadteile und Schulen mit einem hohen Anteil von Menschen mit Migrationshintergrund – vor allem aus dem arabischen Raum oder muslimisch geprägten Ländern. Auch international, insbesondere im globalen Süden, hat Deutschland einen Großteil seiner Glaubwürdigkeit in Sachen Menschenrechte und Völkerrecht eingebüßt.
- Ein speziell deutsches Problem besteht darin, dass aus der historischen Schuld gegenüber den Juden eine identitätspolitische Frage geworden ist. Aus der Verantwortung gegenüber dem Staat Israel hat sich eine Art „Ersatz-Nationalismus“ entwickelt. (Daniel Marwecki in taz 25.5.2024) Dazu gehört die Tatsache, dass in Deutschland erst nach dem 7. Oktober offener über die sogenannte Nakba gesprochen wird. Immer noch gilt die öffentliche Erinnerung der Palästinenser an diese ihre „Katastrophe“ als potentiell antisemitisch. Aus dem gleichen Grund konnten sich viele Deutsche nicht vorstellen, „dass Israel in Gaza Kriegsverbrechen begeht.“ (Daniel Marwecki) Was zur Folge hatte, dass von den Medien lange Zeit vieles relativiert wurde, was gegen dieses Narrativ sprach.
- Kritikern der israelischen Politik wird oft vorgeworfen, dass ihre Vorwürfe einseitig sei. Kaum jemand ging gegen die Politik von Assad in Syrien, die Politik Chinas im Tibet oder den Völkermord im Sudan auf die Straße. Nur Israel würde permanent am Pranger stehen, obwohl es die einzige Demokratie im Nahen Osten sei. Diese Argumentation vergißt etwas ganz Wesentliches. Israel teilt mit Europa die Werte der Aufklärung, anders als die übrigen genannten Staaten, und muss sich an diesem Maßstab messen lassen. Die Kritik richtet sich im Übrigen vor allem an die deutsche Regierung. Auch die israelische Linke sagt seit Jahren, dass der Konflikt nur durch Druck der internationalen Staatengemeinschaft gelöst werden kann. Deutschland und Europa hätten längst handeln können. In diesem Fall mit klaren Wirtschaftssanktionen gegenüber Israel (wofür sich nach jüngsten Umfragen zwei Drittel der Deutschen aussprechen.).
- Auch wenn der Gaza-Krieg nun hoffentlich beendet wird, ist damit der Grundkonflikt um das Recht der Palästinenser auf einen eigenen Staat nicht gelöst. Das alte Schweigen gegenüber der Siedlungs- und Besatzungspolitik Israels im Westjordanland muss beendet werden. Die Grünen müssen auch hier zu einer klaren Haltung finden, abseits der Orientierung an einer einseitig verstandenen „Staatsräson“ gegenüber Israel. Einer Haltung, die wirkungsvolle Sanktionen auf allen Ebenen einschließt.
Anmerkung zum Schluss: Ich wurde mehrfach gefragt, was denn der Krieg im Nahen Osten mit dem „eigentlichen Thema“ des Blogs zu tun habe.
Meine Antwort in Kurzfassung:
Das Narrativ des liberalen Westens – Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Völkerrecht – hat in den letzten 20 Jahren massiv an Ausstrahlung und Einfluss verloren -und der Westen damit auch die moralische Führungsrolle in der Welt. Die Ursachen sind vielfältig: Der Egoismus westlicher Länder bei der Zurverfügungstellung von Impfstoffen in der Corona-Pandemie, der Schwenk bei Investitionen in fossile Energieträger als Folge des Ukraine-Krieges, nun die Infragestellung des Völkerrechts im Gaza-Krieg. Dazu kommt die Orientierung auf weiteres Wirtschaftswachstum. Das Versagen des Westens (nicht nur in den genannten Beispielen) beginnt eben nicht erst mit Trump. All diese Themen und Konflikte verdrängen die eigentlich existentiellen Fragen der Klimakrise und des Artensterbens. Insofern berühren diese Fragen immer auch das „eigentliche Thema“ des Blogs.