Der Archimedische Punkt: Die Verbindung von Finanzierungs- und Lenkungszielen

Von | Mai 21, 2025

(21.05.2025)

An Konzepten zur Bekämpfung der Klimakrise mangelt es nicht. Die Lösungen seien bekannt, es fehle lediglich am politischen Willen oder der Konsequenz, das Notwendige umzusetzen. So das gängige Narrativ. Doch diese Annahme ist ein Irrtum.

Leitbild der deutschen und europäischen Politik ist nach wie vor ein wachstumsorientiertes Wirtschaftsmodell – nun als sogenanntes „Grünes Wachstum“. Das Umweltbundesamt definiert „Grünes Wachstum“ als ein Leitbild, bei dem Umweltbelastungen und Ressourcenverbrauch trotz Wirtschaftswachstum stagnieren oder zurückgehen. In der politischen Praxis zeigt sich jedoch ein doppelter Zielkonflikt: Zum einen gilt die Rangfolge „Grün kann, Wachstum muss“. Zum anderen wird der Erfolg dieses Modells fast ausschließlich an der Reduzierung von CO₂-Emissionen gemessen – ein gefährlicher Trugschluss.

Die Emission von Treibhausgasen ist nur ein Teilaspekt einer umfassenden systemischen Krise. Das Konzept der planetaren Grenzen, entwickelt von einer Gruppe von Wissenschaftlern um den Resilienzforscher Johan Rockström, benennt neun kritische Belastungsgrenzen des Erdsystems, von denen sechs bereits überschritten sind. Dies gefährdet die Stabilität ganzer ökologischer Teilsysteme und erhöht die Wahrscheinlichkeit des Erreichens von Kipppunkten mit unumkehrbaren Folgen. [1]

Vernachlässigt wird vor allem ein Faktor: die Übernutzung natürlicher Ressourcen. Laut UN-Umweltprogramm (UNEP) gehen über 90 Prozent des Biodiversitätsverlusts und mehr als 50 Prozent der globalen Treibhausgasemissionen auf die Gewinnung und Verarbeitung von Rohstoffen zurück. Der globale Ressourcenverbrauch lag 2015 bei rund 11 Tonnen pro Kopf und soll laut UNEP bis 2050 auf 6–8 Tonnen sinken. Deutschland liegt mit etwa 16 Tonnen pro Kopf weit darüber. [2]

Selbst die bislang erzielte CO₂-Reduktion in Deutschland war stark begünstigt durch Sondereffekte: den großflächigen Rückbau alter Industrieanlagen in Ostdeutschland, den Ausstieg aus der Braunkohle und den massiven Ausbau erneuerbarer Energien. In den besonders schwierigen Bereichen wie Verkehr, Gebäude und Landwirtschaft stagnieren die Fortschritte oder bleiben ganz aus.

Derzeit erreicht Deutschland seine Klimaziele weniger durch strukturelle Veränderungen als durch wirtschaftliche Stagnation oder milliardenschwere Subventionsprogramme. Programme, die für den meisten Ländern nicht finanzierbar sind.

Ohnehin machen Deutschlands Emissionen nur zwei Prozent der globalen Emissionen aus. Das ist kein Argument gegen konsequenten Klimaschutz – im Gegenteil. Unser Wirtschaftsmodell gilt als erfolgreich, welches von den aufstrebenden Schwellen- und Entwicklungsländern des globalen Südens kopiert wird. Daraus ergibt sich die eigentliche Aufgabe für Deutschland und Europa: Wir müssen ein ökologisch tragfähiges, sozial gerechtes und global übertragbares Wirtschaftsmodell entwickeln – eines, das auch für die Länder mit begrenzten Mitteln umsetzbar und attraktiv ist.

Der Kaiser ist nackt

Die Politik steckt im Dilemma zwischen zwei widersprüchlichen Imperativen: den ökologischen Grenzen auf der einen und dem Dogma von ewigem Wirtschaftswachstum auf der anderen Seite.

Der Mainstream der Volkswirtschaftslehre hat sich über Jahrzehnte geweigert, die Frage nach Alternativen zum Wachstumsparadigma überhaupt zu stellen. Die postulierte Entkopplung von Wirtschaftswachstum und Ressourcenverbrauch erweist sich als Illusion. Einsparungen im Ressourcenverbrauch werden durch Verlagerung schmutziger Industrien in den globalen Süden und durch den Rebound-Effekt zunichtegemacht – wie im Verkehrsbereich, wo effizientere Motoren durch mehr Fahrten, größere Fahrzeuge oder zusätzliche Autos kompensiert werden.

Darüber hinaus weisen die Modelle der vorherrschenden neoklassischen Volkswirtschaftslehre einen gravierenden blinden Fleck auf: Energie gilt nicht als eigenständiger Produktionsfaktor. In ihren mathematischen Modellen ist Energie lediglich eine Art Schmiermittel – in der realen Welt dagegen Treibstoff der Wirtschaft, dessen Verfügbarkeit und Kosten zentral für jede Wirtschaftspolitik ist.

Nicht zuletzt widersprechen diese Modelle den ersten beiden Hauptsätzen der Thermodynamik, welche auch als Grundgesetz des Universums bezeichnet werden. [3]S.4 Diese besagen sinngemäß: „Nichts kann auf der Welt geschehen ohne Energieumwandlung und Entropieproduktion“. [3]S. 38

Das ökonomische Leitbild von ewigem Wirtschaftswachstum ist aus der Zeit gefallen. Der Kaiser ist nackt. Wir brauchen ein Leitbild, welches sich an den systemischen Grenzen orientiert und auf dieser Grundlage einen Weg in eine zukunftsfähige Wirtschaft zeigt.

Der Archimedische Punkt

Einen strategisch wichtigen Denkansatz liefert das aus der Mathematik bekannte Prinzip der Faltung. [4] Klare Faltungsgrenzen führe dazu, dass dynamische Systeme sich neu ausrichten. Statt ins Mengenwachstum geht das Wachstum dann in die Entwicklung von Vielfalt.

Wir erinnern an den ersten Ansatz zur sinnvollen Steuerung der Wirtschaft, die Ökosoziale Steuerreform. In der Debatte um diese Reform wurde die Marktwirtschaft mit einem fehlgesteuerten Tanker verglichen. Dass zwei Drittel der Steuern und Abgaben in Deutschland über die Belastung des Faktors Arbeit eingenommen werden, hat dazu geführt, die teure Arbeit durch energiegetriebene Maschinen zu ersetzen. Für die freigesetzten Arbeitnehmer mussten neue Arbeitsplätze geschaffen werden, die im nächsten Schritt wieder ersetzt wurden. Hier sehen wir den eigentlichen Treiber des angeblich notwendigen Wirtschaftswachstums.

Die Staatsquote, der Anteil der Staatsausgaben am Bruttoinlandsprodukt, liegt in Deutschland bei knapp 50 Prozent. Zur Finanzierung dieser Ausgaben werden jährlich knapp 2 Billionen an Steuern und Abgaben erhoben. Diese gewaltige Last aus Steuern und Abgaben ist der potentielle Hebel, mit dem der Tanker auf den Weg in eine nachhaltige Wirtschaft umgesteuert werden kann.

Genau hier, in der Verknüpfung von Finanzierungs- und Lenkungszielen, ist der Archimedische Punkt der sinnvollen Steuerung der Marktwirtschaft zu finden: Steuern heißen Steuern, weil man damit sinnvoll steuern kann. Notwendig ist eine Verschiebung eines Großteils der Steuerlast – vom Faktor Arbeit weg zum Faktor Energie.

Der Beitrag ist ein „Vorabddruck“ der Einleitung zum Buch „Den Tanker umsteuern! Leitbild für den Übergang in eine nachhaltige Marktwirtschaft“, welches im Herbst im oekom-Verlag erscheinen wird.

[1] Wikipedia, „Planetare Grenzen,“ [Online]. Available: https://de.wikipedia.org/wiki/Planetare_Grenzen.
[2] UNEP, „Global Resources Outlook 2024. Summary for Policymakers: Bend the Trend –Pathways to a liveable planet as Pathways to a liveable planet as,“ United Nations Environment Programme (UNEP), Nairobi, 2024.
[3] R. Kümmel, D. Lindenberger und N. Paech, Energie, Entropie, Kreativität. Was das Wirtschaftswachstum treibt und bremst, Berlin, Heidelberg: Springer Spektrum, 2018.
[4] A. Levermann, Die Faltung der Welt, Berlin: Ullstein, 2023.