(aktualisiert 07.10.2024)
Was dieser Krieg mit uns in Deutschland zu tun hat? Zum einen: Es ist erschreckend, dass Kriege in einer Zeit auf die Tagesordnung zurückkommen, in der die Welt eigentlich alle Kräfte zur Verhinderung der Klimakatastrophe braucht. Zum anderen: Wir sollten aufhören, die Solidarität mit Israel mit der Solidarität gegenüber der rechtsnationalistischen Politik Netanjahus zu verwechseln.
Israel erlebt eine ähnliche Zäsur wie die USA nach dem 11. September 2001. Was klarzustellen ist: Ich finde den Terror der Hamas im wahrsten Sinne un-menschlich. Das ist auf die Spitze getriebener religiös-nationalistischer Wahnsinn. Und es ist schlimm, dass Juden in Deutschland sich fast verstecken müssen aus Angst um ihre Sicherheit. Nur muss ein Nachdenken darüber möglich sein, wie es zu dieser neuerlichen Eskalation der Gewalt kommen konnte. Solidarität mit und Sicherheit für Israel darf nicht verwechselt werden mit einer kritiklosen Unterstützung der jetzigen religiös-nationalistischen Regierung.
In einem Interview mit der Schweizer Wochenzeitung WOZ sagt der deutsch-israelischen Historiker und Soziologe Moshe Zuckermann: „Wir reden im Moment über den Terror, aber nicht über den Gesamtkontext der Katastrophe. Netanjahu hat es geschafft, die Frage der Palästinenser einfach von der israelischen Tagesordnung wegzuwischen.“
Zuckermann:“Ich spreche die Hamas in keiner Weise von der Verantwortung für die Massaker frei. Die Hamas ist eine fundamental böse terroristische Vereinigung. Aber: (…) Israel war Geburtshelfer der Hamas. Rechtsgerichtete Politiker unterstützten die Organisation nach der Entstehung, auch finanziell. Denn man betrachtete die gemässigtere PLO unter ihrem charismatischen Führer Yassir Arafat als Gefahr für Israel und wollte sie schwächen.“
Mit Erfolg – der allerdings fragwürdig ist. Die Autonomiebehörde gilt als hilflos, schwach, korrupt, für viele Palästinenser auch als Handlanger der israelischen Besatzungsmacht. Aus Angst vor einem nochmaligen Sieg der Hamas (den diese schon 2006 errungen hatte), wurden die versprochenen Parlamentswahlen von der regierenden PLO seitdem immer wieder verschoben.
Zuckermann: „Netanjahu koaliert mit den ultrazionistischen, rechtsextremistischen Kahanisten. Die beschwören die Bedrohung schon gar nicht mehr herauf, sondern sagen direkt, dass die Araber im israelischen Kernland und in den besetzten Gebieten nichts verloren hätten. Es wird offen ein Bevölkerungsaustausch gefordert, ethnische Säuberungen.“
Inzwischen leben im Westjordanland einschließlich Ostjerusalem mehr als 700.000 Siedler. Nach internationalem Recht sind die Siedlungen illegal. Von Januar bis Februar 2023 hat die Regierung den Bau von mehr als 7.000 neuen Wohnungen genehmigt, im Juni dann nochmal 4.500 Wohneinheiten. Zuständig für die Genehmigungen ist der ultrarechte Finanzminister Bezalel Smotrich, der im März bei einer Rede in Paris gesagt hatte: „So etwas wie Palästinenser gibt es nicht, weil es so etwas wie ein palästinensisches Volk nicht gibt.“
Zuckermann befürchtet „wegen des Terrors eine Art Regression in Bezug auf die Wahrnehmung Israels (…) Alle solidarisieren sich mit Israel, aber die Leute wissen gar nicht, mit was für einem extremistisch geführten Israel sie sich solidarisieren.“
Der deutsch-israelische Philosoph Omri Boehm verweist auf den aktuellen Koalitionsvertrag der Regierung Netanyahu. Dort heißt es: „Das jüdische Volk hat uneingeschränkte und exklusive Rechte auf alle Gebiete Eretz Israels“ – alles „zwischen dem Fluss und dem Meer“. Das ist spiegelbildlich die Ideologie der Hamas: „From the River to the Sea“.
Der Publizist Navid Kermani schreibt an seinen Freund Natan Sznaider während der zweiten Intifada 2002: „… wenn schon von immer von der besonderen Verantwortung Deutschlands für Israel die Rede ist – warum dann auch nicht von der besonderen Verantwortung der Deutschen für die Palästinenser? Immerhin verdanken sie es vor allem den Deutschen, dass die Israelis sie aus ihrer Heimat vertrieben haben…“ Tatsächlich ist schon der Begriff Nakba (für das Trauma der Vertreibung) in Deutschland kaum bekannt.
Netanjahu hat inzwischen mehrfach bestätigt, dass er nie einen Palästinenserstaat wollte. Das war aber quasi die Bedingung für die Existenz des israelischen Staates: Dass die Palästinenser das gleiche Recht auf einen unabhängigen Staat haben. Selbst für Angela Merkel war die Zweistaatenlösung „alternativlos“. Mit dieser Haltung (zur Ablehnung Zweistaatenlösung) haben Scharon und Nachfolger tatsächlich einen unlösbaren Konflikt geschaffen. Denn klar ist, dass die Palästinenser nie auf einen eigenen Staat verzichten können.
Es gibt inzwischen die Befürchtung, dass Netanjahu auch mit dem Gaza-Krieg eigene Interessen verfolgt. Es geht praktisch um sein politisches Überleben, wie schon bei der Justizreform. Er spielt sogar mit der Möglichkeit einer Ausweitung des Konfliktes mit der Hisbollah. Der Spiegel schreibt: In Washington wird vermutet, „dass Netanjahu diesen nächsten Krieg wolle, weil er wisse, dass mit dem Ende der Kämpfe in Gaza auch sein politisches Schicksal besiegelt wäre.“ (Spiegel 19.11.23)
Die geplante Bodenoffensive im Gaza-Streifen könnte ähnlich enden wie der zweite Irakkrieg. Damals sollte der Diktator Saddam Hussein beseitigt werden. Das Ergebnis war eine zerstörte Infrastruktur, eine traumatisierte Bevölkerung und die Bildung des sogenannten Islamischen Staates.
Die Beseitigung der Hamas könnte analoge Kollateralschäden produzieren. Neben vielen zivilen Opfern und der Zerstörung von Gebäuden und Infrastruktur könnte die IS oder IS-ähnliche Gruppen die Rolle der Hamas übernehmen. Auch im Westjordanland könnte die Wut die Palästinenser radikalisieren. Aus dem zerstörten Gaza könnte eine Brutstätte für die nächste Terrorwelle entstehen. Nicht nur in Gaza. Eine Gefahr auch für Europa.
In dem israelischen Dokumentarfilm „The Gatekeepers“ von 2013 werden sechs ehemalige Chefs des Inlandsgeheimdiensts Schin Bet interviewt. Es geht um die Frage Taktik versus Strategie. Sie waren die Taktiker und stellen fest: Es gibt keine Strategie zum Ausstieg aus der Dauerkrise. Die Geheimdienstchefs warnen: „Die Fortsetzung und Aufrechterhaltung der Besatzung einer zivilen Bevölkerung wird zum Ruin Israels führen und in eine Katastrophe.“ Das war vor zehn Jahren.
Einer sagt: „Israel kapiert nicht, dass es jeden Kampf gewinnt. Aber den Krieg verliert.“
Simon Stein, ehemaliger israelischer Botschafter, und Moshe Zimmermann, israelischer Historiker, stellten schon 2021 die Auffassung von der deutsche Staatsräson gegenüber der Politik Israels kritisch infrage: „Was aber, wenn Israels Verständnis von der eigenen Sicherheit und von der eigenen Staatsräson einen Hang zur Selbstzerstörung offenlegt? Gehört es zur deutschen Staatsräson, auch in diesem Fall blind mitzumachen? Wie soll Deutschland mit dieser übernommenen Verantwortung umgehen, zu der auch die Beendigung des israelisch-palästinensischen Konflikts gehört? Sieht es tatenlos zu, wenn Israel Schritte unternimmt, die sich nicht im Einklang mit der deutschen und internationalen Vorstellung, also mit der Zwei-Staaten Lösung, befinden? Und die Israel als demokratischen und jüdischen Staat in Frage stellen?“
Ein paar Wortmeldungen zum Konflikt:
Ausführlicher Podcast mit der Nahostexpertin Muriel Asseburg von der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP): Hintergrund und aktuelle Fragen zum alten Konflikt zwischen Israel und Palästina – ein Vierteljahr vor dem Attentat vom 7.10.23. („Jung & Naiv“ mit Tilo Jung 27.06.2023)
(04.11.23): Informatives 12-minütiges Video auf Arte.tv mit einer Darstellung des Israel-Palästina-Konfliktes anhand von Karten.
Der linke israelische Schriftsteller Tomer Dotan-Dreyfus: „…eigentlich ist doch genau das passiert, von dem die israelische Linke seit Jahrzehnten sagt, dass es passieren wird…. Dass die Situation in Gaza nicht einfach nur verwaltet werden kann. Dass sie gelöst werden muss, weil sie sonst explodieren wird…. Die Hamas ist nicht links. Das sollte allen klar sein.“ (DIE WELT 14.11.23)
Die jüdische Schriftsellerin Deborah Feldman: „…die Hamas lässt sich nicht auslöschen. Sie ist eine Ideologie, die bestehen bleibt solange sie einen Nährboden hat. Und wenn die Hamas-Struktur zerstört werden sollte, dann kommt danach eine neue terroristische Organisation, die bereit wäre, Gaza zu kontrollieren. Du kriegst die Ideologie nicht aus den Köpfen heraus, wenn du nicht den Grund für den Hass entschärfst. Je mehr auch die Palästinenser in Freiheit, Sicherheit und Würde leben können, desto weniger Nahrung bekommt der Hass.“ (Rheinische Post 13.11.23)
Die Wissenschaftlerin Hanan Ashrawi, 77, ehemalige Abgeordnete des palästinensischen Parlaments, Bildungs- und Forschungsministerin. Der historisch belastete Blick der Europäer (erschwere) eine Lösung: »Sie vermischen Israel mit den Opfern des Holocaust, ja sie decken Israel wegen ihres eigenen Schuldgefühls. Wir zahlen den Preis dafür. Aber wir hatten mit dem Holocaust nichts zu tun. Das war eine europäische Tragödie.« Der Holocaust sei als Faktum weltweit anerkannt; die Regeln der Entschädigung der Opfer in den Rechtssystemen mancher Staaten niedergelegt. »Wir können dagegen mit der Nakba bis heute nicht abschließen. Niemand erkennt sie überhaupt an.« (DER SPIEGEL vom 11.11.23)
Der Journalist Richard C. Schneider, Leiter des ARD-Studios in Tel Aviv (2006-2015) schreibt über einen Auftritt Netanjahus vor der Likud-Fraktion 2019: „Wer gegen einen palästinensischen Staat sei, müsse die Überweisung von Geldern an die Hamas in Gaza befürworten. Denn eine starke Hamas im Gazastreifen trüge dazu beim, die Palästinenser zu spalten und verhindere so die Gründung eines palästinensischen Staates.“ Es ging um „Millionenbeträge, die Katar mit Erlaubnis und Unterstützung des israelischen Ministerpräsidenten der Hamas regelmäßig überbrachte – häufig in dicken Geldkoffern, über die israelische Grenzstation Erez direkt nach Gaza.“ Gershon Hacohen, Generalmajor der Reserve und einstiger Vertrauter Netanjahus in einem Interview 2019: „Um eine Zweistaatenlösung zu verhindern, würde Netanjahu „die Hamas zu seinem engsten Partner machen“: „Öffentlich ist die Hamas der Feind. Doch insgeheim ist sie ein Verbündeter“.“ (Spiegel Plus 10.11.23)
Zum Schluss ein Buchtip. Die Autobiografie von Sari Nusseibeh: „Es war einmal ein Land.“ Der Autor ist Philosoph, war Präsident der arabischen Universität in Jerusalem, Lew-Kopelew-Preisträger und, zusammen mit Amoz Oz, Siegfried-Unseld-Preisträger. Es gibt vielleicht kein besseres Buch, um diesen „ewigen“ Konflikt zu verstehen. Vor allem hat er nie aufgegeben, an ein Miteinander von Juden und Palästinensern und eine friedliche Lösung des Konfliktes zu glauben. (Buch derzeit leider nur antiquarisch zu finden.).
03.01.2024: Ein aktueller Buchtip: Navid Kermani und Natan Szaider: „Israel. Eine Korrespondenz.“ Ein Austausch der beiden Freunde aus dem Jahr 2002. (Ende 2023 veröffentlicht) Erschreckend aktuell die Parallelen zwischen damals und heute. Die Argumente klingen, als wären sie heute ausgetauscht worden.
26.05.2024: Daniel Mawecki, Professor für internationale Beziehungen an der University of Hong Kong, zu einem Buch „Absolution? Israel und die deutsche Staatsräson“: „Die Staatsräson kollidiert eben mit dem Völkerrecht, da muss man sich entscheiden. (…) Unter Staatsräson versteht man gemeinhin das, was ein Staat tut, um sich selbst zu erhalten. (…) Katrin Göring-Eckhardt 2018 im Bundestag: „Das Existenzrecht Israels ist unser eigenes.“ (…) Es ist ein Ersatznationalismus. Er führt auch dazu, dass sich viele in Deutschland nicht vorstellen können, dass Israel in Gaza Kriegsverbrechen begeht. Denn das würde am deutschen Selbstbild kratzen, weil wir daran beteiligt wären.“ (taz 25.05.2025)
22.07.2024: Ami Ajalon, ehemals Chef des Geheimdienstes Schin Bet (1996-2000): „Palästinenser sind bereit zu kämpfen, zu töten und zu sterben, um Freiheit, Unabhängigkeit und ein Ende der Besatzung zu erreichen. Das ist der Grund, warum die Hamas Unterstützung erhält. (…) Entweder teilen wir dieses Stück Land mit den Palästinensern und bewahren damit unsere Identität als jüdische Demokratie und erlangen mehr Sicherheit – oder wir behalten das Land und wir setzen einen endlosen Krieg fort. Einen Krieg, der dann immer mehr zu einem Krieg gegen den Islam werden wird, weil er immer radikaler und immer religiöser werden wird.“ (ZEIT Online 21.07.2024)
Zur Rolle und Haltung von Ami Avalon 2001/2002, während der zweiten Intifada, Zitate aus o.g. Buch von Sari Nesseibeh: „Wir (Israelis) sagen, die Palästinenser verhielten sich wie Verrückte, aber das ist keine Verrücktheit, sondern abgrundtiefe Verzweiflung.“ (S. 448). Avalon und Sari Nusseibeh starteten im Juni 2002 eine Unterschriftenaktion für eine Zweistaatenlösung. Ziel der Aktion war es, je eine Million Unterschriften von Israelis und Palästinensern zu sammeln und so politischen Druck von unten für eine Friedenslösung zu schaffen. Tatsächlich zeigten Meinungsumfragen damals, dass über 70 Prozent der Israelis ernsthafte Verhandlungen über ein Abkommen befürwortete. Selbst Arafat unterstützte nach anfänglichem Zweifel die Aktion (S. 485 f.). Ebenfalls im Juni 2002 war die Arabische Friedensinitiative zur Anerkennung des Existenzrechts Iraels von allen 57 Mitgliedern der Organisation der Islamischen Konferenz (einschließlich des Iran!) angenommen worden. Der angestrebte Prozess scheiterte an der Haltung der israelischen Regierung (unter Scharon), der auf einen Selbstmordanschlag im März mit dem Einmarsch der Armee im Westjordanland und Bombadierung der Zentrale der Auonomiebehörde reagierte (die Hamas einschließlich ihres Führers Scheich Ahmad Jassin blieb unbehelligt, S. 458). Der israelische Politikwissenschaftler Baruch Kimmerling prägte den Begriff des Polizids für die Absichten seiner Regierung: „…einen Prozess, dessen Endziel darin besteht, alle Aussichten eines bestimmten Volkes auf legitime Selbstbestimmung und Souveränität über sein Land, dass es als seine Heimat betrachte, zu zerstören – ja, sogar seinen Willen dazu zu brechen“. (S. 459)
07.10.2024: Ehud Olmert, Ministerpräsident Israels 2006-2009 und Nasser al-Audwa, ehemals palästinensischer Vertreter bei der UN und palästinensischer Außenminister 2005-2006, haben einen Friedensplan vorgelegt. Sie plädieren für eine Zwei-Staaten-Lösung auf der Grundlage der Grenzen vom 4.Juni 1967, verbunden mit einem Gebietsaustausch: 4,4 Prozent des Westjordanlandes werden an Israel angegliedert, das betrifft die Gebiete mit den größten Siedlungsblöcken, einschließlich des Gebiets um Jerusalem. Im Gegenzug werden Territorien in der gleichen Größe aus dem Staatsgebiet Israels gelöst und dem Staat Palästina angegliedert. Die Altstadt von Jerusalem soll von einer Treuhandschaft von fünf Staaten verwaltet werden, darunter Israel und Palästina.
Anmerkung: Viele der Artikel, die sich mit dem Kontext des „Konfliktes“ beschäftigen, sind leider nur hinter einer Paywall zu finden, was nicht gerade zum breiten Verständnis des Problems beiträgt. Die meisten dieser Artikel sind jedoch über genios.de, eine Recherche-Plattform der Stadtbibiotheken, mit Nutzerausweis-Nr. zu lesen.