Nicht der Markt, seine Fehlsteuerung ist das Übel

Von | Mai 19, 1993

(Mai 1993)

Nachfolgender Artikel war eine Antwort auf einen Beitrag von Oberkirchenrat Dietrich Mendt zum Thema „Marktwirtschaft“ in der evangelischen Wochenzeitung „Die Kirche“. In seinem Beitrag wurde eine Frage angesprochen, die gerade in Ostdeutschland immer wieder auftauchte: die Suche nach einem Dritten Weg zwischen Sozialismus und Marktwirtschaft. Als wäre das, was wir gegenwärtig als Krisenerscheinungen erleben, nicht zu trennen von der Marktwirtschaft an sich. Als wäre sie nur so und nicht anders denkbar. Und als wäre dies der unvermeidliche Preis für die gewonnene Freiheit.

Dietrich Mendt hat Recht, wenn er die Marktwirtschaft meint, wie wir sie derzeit erleben. Sie scheint tatsachlich keine Alternative zu bieten. Dafür drei Beispiele:

Während meines Aufenthalts in einem evangelischen Krankenhaus wurde das Essen umgestellt. Danach gab es „rationelle“ Kleinstverpackungen für Käse, Wurst, Butter: arbeitskräftesparend, Plasteverpackung ist billig.

Wo zu DDR-Zeiten in jeder ländlichen Kleinstadt Molkerei, Stärke- und Zuckerfabrik existierten, herrscht jetzt Arbeitslosigkeit. Ein bis zwei hochproduktive Anlagen je Bundesland reichen aus. Dank Tiefkühltransport und Konservierungsmitteln spielen Entfernungen keine Rolle mehr.

Wir werden gelobt, weil wir uns als preisbewusste Konsumenten gezeigt haben. Eingekauft wird in Großmärkten, die mangels anderer Alternativen überall begrüßt werden. Dass dafür weitaus mehr Arbeitsplätze im Einzelhandel wegbrechen, in vielen Orten keine Verkaufsstellen existieren, nehmen wir bedauernd zur Kenntnis.

Die Beispiele zeigen eine Anpassung an marktwirtschaftliche Gegebenheiten. In allen Fällen „rechnet sich“, was nach sozialen und ökologischen Gesichtspunkten falsch erscheint. Warum aber rechnet es sich, mit dem Auto statt mit der Bahn zu fahren? Warum ist Aldi-Käse billiger als unverpackter? Warum motivieren die marktwirtschaftlichen Gesetze den Ersatz von Menschen durch Maschinen? Ist die Marktwirtschaft falsch oder wird sie nur falsch gesteuert?

Beispiel Verkehr

Der Begriff „Subventionierung“ wird nur bei Bahn und Nahverkehr angewandt. Dass die Kosten zum Bau und Unterhalt der Straßen auch nicht durch Mineralöl- und Kfz-Steuer gedeckt werden, ist nur der kleinere Teil der Wahrheit. Der Kfz-Verkehr verursacht jährlich Schäden durch Luftverschmutzung, Lärm, Flächenverbrauch, Verkehrsunfälle und damit Folgekosten, die auch nicht vom Verursacher, sondern vom Steuerzahler oder von nachfolgenden Generationen getragen werden müssen.

Das Umwelt- und Prognose-Institut Heidelberg (UPI) ermittelte 1989 allein für die alten Bundesländer ökologische und soziale Folgekosten von 210 Mrd. DM. Bei Umlage dieser Kosten nach dem Verursacherprinzip würde der Preis eines Mittelklassewagens auf 85.000 DM oder der eines Liter Benzin auf ca. 6 DM klettern.

„Grüne“ Utopie? Nein, nur konsequente Marktwirtschaft. Sie funktioniert auf Dauer nur, wenn man für die Inanspruchnahme von Gütern einen Preis zahlt, der wenigstens die Kosten trägt. Die Zeiten, als Naturvorräte unerschöpflich schienen, Folgeschäden verdrängt werden konnten, sind längst vorbei. 

Beispiel Landwirtschaft

Die ursprüngliche Absicht, durch gezielte Anreize die Intensivierung der Landwirtschaft und damit die Versorgung mit Lebensmitteln bei Freisetzung von Arbeitskräften für die Industrie sicherzustellen, ist längst ins destruktive Gegenteil umgeschlagen. Die Nitratbelastung des Grundwassers, die chemische Belastung der Lebensmittel, die „Regulierung“ der Überproduktion usw. verursachen jährlich Folgeschäden von mehr als 70 Mrd. DM, und zwar durch falsche staatliche Subventionen (UPI 1991).

Die Alternative? Nicht der Ruf nach Subventionierung des Ökolandbaus, sondern die Durchsetzung des Verursacherprinzips: Bei entsprechender Verteuerung von Stickstoffdüngemitteln, Pestiziden etc. würde aus der „Nischenproduktion“ Ökolandbau die modernere, wirtschaftlichere Produktionsweise. 

Problem Arbeitslosigkeit

Dietrich Mendt beklagt das auch in der Kirche zunehmende Argument: Das rechnet sich nicht. Warum aber nicht? Warum müssen dringend benötigte Mitarbeiterstellen abgebaut werden, während andererseits mit viel Geld Arbeitsplätze geschaffen werden müssen? Deutschland gehört zu den Ländern mit dem höchsten Lebensstandard. Auch mit „nur“ 70 Prozent des westlichen Lohnniveaus liegen wir bereits gleichauf mit den USA und Frankreich.

Zu DDR-Zeiten betrugen diese Kosten nur einen Bruchteil der jetzigen. In der Industrie können diese drastischen Lohnsteigerungen zum Teil durch Erhöhung der Produktion ausgeglichen werden. Nur: wohin mit den Produkten? Die Märkte sind voll. Im Sozialbereich, wo Personalkosten den entscheidenden Anteil ausmachen, bleibt nur der Stellenabbau, wenn die Kosten schneller als die Einnahmen steigen.

Wir sollten nicht vorschnell „das System“ schuldig sprechen, wo wir doch Mittäter sind. Wir selbst sind es doch, die ganz schnell die westlichen Löhne erreichen wollen. Und nicht einmal in der Kirche ist ein 80-Prozent-Modell für hohe und mittlere Gehaltsgruppen konsensfähig. Warum verschieben wir den beispielhaften Versuch einer Verteilung von Arbeit und Einkommen wieder in eine zukünftige „gerechtere“ Gesellschaft?

Das ist aber nur die eine Seite der Medaille. Von 1960 bis 1987 ist das Aufkommen aus der Lohn- und Einkommenssteuer um das Zwanzigfache gestiegen, während andere Steuern stagnierten. Steuern auf menschliche Arbeit machen zwei Drittel der Staatseinnahmen aus. Solange Arbeitskräfte knapp waren, machte die künstliche Verteuerung von Lohnarbeit sogar Sinn, sie motivierte zur Rationalisierung. Inzwischen ist dieser Ansatz sinnlos geworden. Arbeitskräfte sind im Überfluss vorhanden. Knapp sind Rohstoffe und intakte Umweltbedingungen.

Nicht die Marktwirtschaft ist das Übel, sondern die falschen Rahmenbedingungen. Es muss sich endlich für die Unternehmen und jeden Einzelnen „rechnen“, was aus gesamtgesellschaftlicher und globaler Sicht richtig und notwendig ist. Wir brauchen nicht mehr Steuern, sondern andere. Lohnnebenkosten und Lohnsteuern können schrittweise durch Ökosteuern ersetzt werden. Investitionen würden endlich in die richtige Richtung gelenkt werden.

Modernisierung hieße dann Einsparung teurer Energie und Rohstoffe statt Arbeitsplatzabbau. Wirtschaftlich wären dann ökologische verträgliche Produktionsweisen, Verkehrsvermeidung, dezentrale Strukturen der Wirtschaft, des Handels und der öffentlichen Einrichtungen.

Warum ein solcher Weg nicht längst beschritten wird? Das Festhalten an alten „bewährten“ Prinzipien ist offensichtlich kein Privileg sozialistischer Politiker. Mit genügend Geld lassen sich die Probleme im eigenen Land noch eine Weile unter den Teppich kehren. Aber nicht mehr lange.

In Polen bricht gerade die einheimische Landwirtschaft unter dem Druck subventionierter EG-Lebensmittel zusammen. Wohin mit den Bauern? In China werden gerade die Fließbänder für eine der modernsten Autofabriken montiert. Das westliche Wohlstandsmodell wird kopiert.

Die Änderung der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen ist das eine. Das andere ist unser Wohlstandsbegriff, unser Anspruchsdenken, unsere Fähigkeit zum solidarischen Teilen. Die Politiker zum Sündenbock zu machen, taugt nicht. Bisher spiegeln sie nur unsere eigene Unfähigkeit zur Veränderung wider.

Es wäre dringend notwendig, dass diese Fragen im neu anlaufenden konziliaren Prozess diskutiert werden.

(Erstveröffentlichung in „Die Kirche“ 02.05.1993)