Die Linken und die Lohnfrage

Von | Dezember 5, 1992

Ab 1992 diskutierten wir in der LAG Wirtschaft von Bündnis 90 Brandenburg  über die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen für den Aufbau Ost. Es ging um die richtigen oder falschen Weichenstellungen am Beginn des wirtschaftlichen Aufbaus. Dazu gehörte sowohl die Frage der Ökosozialen Steuerreform als auch das Problem der schnellen Lohnangleichung im Osten.
Vor allem in der Lohnfrage ging es um eine politische Beurteilung. Denn die wirtschaftlichen Argumente waren eindeutig gegen die schnelle Angleichung.
Und gerade von Bündnis 90 als Partei der Bürgerbewegung war eine klare Haltung gefragt, die die populistischen Argumente der Gewerkschaften hinterfragen sollte.
Nachfolgend ein Ausschnitt aus einem Artikel vom Dezember 1992, welcher  in der neuen Mitgliederzeitschrift von Bündnis 90 erschien.

Nirgendwo wird die Widersprüchlichkeit und Konzeptionslosigkeit bei vielen so genannten Linken so deutlich wie bei der Lohnfrage. Anlässlich der UNCED gehörten Aufrufe zu Konsumverzicht im Norden zum Ritual. Wenn es aber konkret wird, versagen die Maßstäbe. Natürlich unterstützt man die Lohnforderungen der Gewerkschaften. Dass diese Verteilungskämpfe ständiger Antrieb für noch mehr Rationalisierung und Wachstum, für noch mehr Leistungsgesellschaft und soziale Differenzierung, letztlich für noch mehr Not und Elend in der Dritten Welt sind, wird vergessen. Dieselbe Ideologie jetzt im Osten: Das Motto „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit“ zieht, macht die Gewerkschaften populär. Die Linke schweigt. Erst wenn die Arbeitslosigkeit wächst, sich der Frust an Asylbewerberheimen entlädt, wacht man auf.

Sollte nicht endlich klar werden, dass das eine etwas mit dem anderen zu tun hat? Dass unter den jetzigen Bedingungen, wo menschliche Arbeitskraft in Deutschland teuer ist, während in Osteuropa und in der EG billige Arbeitskräfte zu haben sind, ein weiteres Drehen an der Lohnschraube Arbeitsplatzmord bedeutet. Und dass die hohen Löhne auch im öffentlichen Dienst, angesichts Verschuldung der öffentlichen Kassen und hohem Personalkostenanteil logisch zu Massenentlassungen führen werden? Was das für die Kommunen bedeutet, für die Erhaltung von Kultur- und Sozialeinrichtungen, mag sich jeder ausrechnen.

Wir werden diesen neuen Konsens nicht finden, wenn wir weiter- und mitmachen bei diesem Verteilungskampf. Das Wort Verzicht ist verpönt. Es trifft auch nicht den Kern. Wir brauchen einen anderen Wohlstandsbegriff. Was nützt das größere Auto, wenn man doch bloß im Stau steckt, die Kinder nicht mehr auf der Straße spielen können, die Umweltbelastung weiter ansteigt?

Was nützt ein steigender materieller Wohlstand in Deutschland, wenn ringshe­rum alles zusammenbricht, die Jugendlichen ohne wirkliche Zukunft aufwachsen? Wir brauchen ein Neues Denken. Statt des alten Verteilungskampfes mehr solidarisches Verhalten, statt der schnellen An­gleichung die gleichmäßige Angleichung. Das 80%-Modell der Brandenburger Lehrer könnte dafür ein Beispiel sein. Es gibt genug dringende und sinnvolle Arbeit. Nur muss sie bezahlbar bleiben.

Der alte Verteilungskampf zwischen Gewerkschaften und Arbeitgebern ist ein Scheinkonflikt. Aus der Sicht der sozial Ausgegrenzten, ob im eigenen Land, in Osteuropa oder der dritten Welt, ist es ein Streit unter Privilegierten. Bezahlt wird die Rechnung nicht von den am Verteilungskampf Beteiligten, sondern den Nichtbeteiligten.

(Erstveröffentlichung in Bündnis 2000 Dez. 1992)